Nativitas - Eine Einführung von Helmut Röhrbein-Viehoff

Mittwoch, 17. Dezember 2014, 20. 00 – 21. 30 Uhr (Webseite Ankündigung)
Kirche St. Ansgar – Kleiner Michel

Wir alle wurden einmal geboren. Wir alle sind aus dem Leib eines anderen Menschen herausgekommen, den die meisten, sobald sie anfangen zu sprechen, in ihrer jeweiligen Sprache „Mutter“ nennen. Von Mutterleib an prägt das Geborensein unser Leben: als Abkünftigkeit und Angewiesenheit, in die unsere Freiheit eingebettet ist und bleibt. Wir kommen aus einer Anderen, wir sind geworden in einer Gebärmutter, wir entstammen einem Mutterschoß. Unser Anfang liegt in einer realen „Matrix“. Dahinter können wir nicht zurück.

Am Anfang unseres Leben also waren wir Teil des Körpers einer Anderen, ungefähr neun Monate lang. Was da geschah, das zeigt nachher eine Video-Einblendung. Was werden wir sehen?

Es beginnt mit der Befruchtung der weiblichen Eizelle durch den männlichen Samen. Ein Samen. Eine Zelle. Die Eizelle teilt sich. Die Zellen vermehren sich, werden ein himbeer-artiges Gebilde.

Dann spezifizieren sie sich, bilden neue Formen. Es entwickelt sich aus dem ganzen Zellgebilde ein Streifen: der „Primitivstreifen“ - bestehend aus einem vorderen und einem hinteren Teil, dem Endoderm und dem Ektoderm. Aus dem Endoderm bilden sich später die Organe. Das Ektoderm bringt Nervensystem, Gehirn und Haut hervor.

Aber wir brauchen noch etwas: unsere Mitte, der innere Raum. Die Zellen merken, dass noch etwas fehlt: das Mesoderm – die Mitte. Der innere Raum, aus dem das Herz, die Blutgefäße, Knochen und Muskeln entstehen werden.

Aus dem Knoten, den ihr vorher gesehen habt, hat sich meine Wirbelsäule gebildet. Aus der chorda dorsalis eben. Von griechisch Chordä gleich Darmsaite und lateinisch dorsum gleich Rücken. Bedeutet so viel wie „Rückensaite“ oder „Achsenstab“, der den ganzen Körper durchzieht. Von hinten kann ich meine künftige Wirbelsäule schon spüren: die Spitzen, die Dornfortsätze. Neuerdings auch die Querfortsätze. - Osteopathen können das auch. Sie haben fühlen gelernt. Das braucht Zeit.

Die folgenden Gedanken habe ich bei Ina Praetorius gefunden – einer evangelischen Theologin aus der Schweiz (in der Zeitschrift ORIENTIERUNG, 73. Jahrgang (2009), S. 134-138):

Eines Tages – oder eines Nachts – erblickten wir also das Licht der Welt. Wir hingen zunächst noch an der Nabelschnur, blutig und schleimig. Hat sich jemand über unser Ankommen gefreut?Wir schrien und weinten, bis uns jemand mit Nahrung, Wärme, Kleidung und Schutz versorgte. Später gaben die Anderen, die Älteren uns Sprache, Moral, Kultur und Wissen. Sie schenkten uns Wörter wie „Gott“ oder „Liebe“ oder „Gnade“, damit wir anfangen konnten, unserem Dasein einen Sinn zu geben. Schließlich werden wir, was man „selbständig“ nennt: wir können alleine stehen, gehen, miteinander sprechen und allerlei Dinge tun. Selbständigkeit allerdings ist nicht Unabhängigkeit. Kein Mensch kann auch nur fünf Minuten ohne Luft überleben oder eine Woche ohne Wasser. Wie lange kann ein Mensch ohne Zuwendung und Liebe überleben?

Heute bemüht man sich in Krankenhäusern und Forschungslabors zwar, die Zeit, welche jeder Mensch am Anfang seines Lebens im Leib eines anderen Menschen zubringt, zu verkürzen: durch Zeugung in der Retorte, im Reagenzglas einerseits, durch technisch hochdifferenzierte Arbeit am Überleben zu früh Geborener im Brutkasten andrerseits. Trotzdem gilt bis heute: kein einziger Mensch ist in einer Gebärmaschine entstanden. Alle zig-milliarden Menschen, die bis heute auf der Erde gelebt haben oder leben, sind aus lebendigem Leib gekommen.

Obwohl der Anfang eines Menschseins offen zutage liegt, ist das Geborensein, anders als das Sterben und der Tot, in unserer westlichen Geistesgeschichte von einem seltsamen Schweigen umgeben. Seit der Gotik gibt es äußerst realistische Bilder vom Sterben Jesu am Kreuz – nicht aber von seiner Geburt. Zwar nennen wir die vielen weihnachtlichen Bilder von Maria, Josef und dem Jesuskind manchmal „Geburtsdarstellungen“. Aber von einer Geburt ist da meistens nichts zu sehen. Wir sehen im allgemeinen eine aufrecht sitzende, sauber bekleidete junge Frau, die einen frisch gewaschenen, rosigen Säugling auf ihrem Arm hält. Auch die biblischen Erzählungen von der Geburt Jesu (bei Lukas und Matthäus) sind keine Schilderungen des Geburtsvorganges, sondern stellen bloß nüchtern die Tatsache seiner Geburt fest.

Ist des Gott-Menschen reale irdische Herkünftigkeit uns peinlich? Was bedeutet es für unsere Selbstwahrnehmung, daß wir uns über Jahrhunderte angewöhnt haben, uns vom Ende her, als „Sterbliche“ zu denken? Nicht vom Anfang her: als Geborene, Geburtliche?

Kein Mensch also hat sich selber hergestellt. Vieles können Menschen machen, aber nicht sich selbst. Es sind auch nicht die Mütter oder die Väter, die die Kinder machen. Sondern es ist da ein großes Geheimnis jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit. Viele nennen dieses Geheimnis „Gott“. Sie benutzen also das Sinngebungswort, das ihnen am Anfang ihres Lebens von Älteren geschenkt wurde. Und sie begreifen sich selber als „Geschöpfe Gottes“, ja als „ Gotteskinder“.

Was wir diesseits unserer göttlichen Herkunft sehen können, ist dies: Ein winzig kleines Menschenkind geht aus einem erwachsenen Menschen hervor: an einem konkreten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Und sofort sind wir Teil eines Generationengefüges, Söhne und Töchter von Müttern und Vätern, die ihrerseits Söhne und Töchter von Töchtern und Söhnen sind. Diesen unseren Stammbaum haben wir uns nicht ausgesucht. Er ist uns vorgegeben; wir können ihn nicht verändern. Wir haben ihn ererbt mit dem ersten Moment unserer Existenz. Aber wir sind frei, uns zu ihm zu verhalten.

Hannah Arendt, die Philosophin und politische Denkerin in jüdischer Tradition, schrieb 1958: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden; und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen. “ Menschen werden für Hannah Arendt nicht, wie die Existenzphilosophen meinten, ohne Sinn in die Welt „geworfen“, sondern in ein schon bestehendes Beziehungsgefüge eingefügt. Geboren werden heißt für sie, als unverwechselbarer Mensch in die bereits vorhandene Fülle der Welt eintreten und in dieser Welt „. . . selbst aus eigener Initiative etwa Neues anfangen“ (Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 1981, S. 160).

Vor unserer Geburt, da waren wir noch enger verwoben. Wir waren zwei in eins: zwei Menschen – Mutter und Kind - im Leib einer Frau. Die philosophische und theologische Sprache, mit der wir bis heute in unserer westlichen Kultur denken und reden, kann diesen Zustand nur schwer erfassen. Denn sie stellt seit vielen Jahrhunderten den erwachsenen, männlichen Menschen als Modell ins Zentrum. Von ihm her scheint sich, dieser Tradition zufolge, alles weitere, was über den „Menschen an sich“ zu sagen ist, abzuleiten. Das entsprechende Ideal ist die Autonomie. Nicht die Verbundenheit.

Immanuel Kant hat den ersten Schrei des Neugeborenen als Protest gegen die Heteronomie des menschlichen Anfangs interpretiert. Denn wir konnten ja nicht entscheiden, ob wir geboren werden wollten. Diese anfängliche Fremdbestimmtheit, das „Diktat der Geburt“, ist es vielleicht, das viele, vor allem aufgeklärte Philosophen, so ärgerlich, so widerstrebend und schließlich stumm macht angesichts des eigenen Herkommens. Kant hat sich bekanntlich sein Leben lang damit beschäftigt, wie der Mensch dieser kränkenden Abhängigkeit entkommen kann – nämlich durch den disziplinierten Gebrauch seiner Vernunft. Und Johann Gottlieb Fichte spricht nur noch von der „Selbstsetzung“des menschlichen Subjekts.

Wir alle – jeder und jede von uns – waren unbestreitbar bei der eigenen Geburt dabei. Wir waren Beteiligte, haben vielleicht sogar die Hauptarbeit dabei geleistet. Und dennoch kann niemand sich bewußt daran erinnern. Wir alle sind angewiesen darauf, daß Andere, Ältere, Eltern uns erzählen, wann, wo und wie wir eingetreten sind in diese Welt. Die reale Matrix ist umschlossen von der Matrix des Erzählens. Was wissen wir von unserer Geburt?

Ein blutiges und schleimiges zerknittertes rotblaues Menschlein tritt oder rutscht oder kämpft sich aus dem Körper einer Frau hervor. Manchmal geht das ganz schnell und schmerzlos, manchmal dauert es Stunden und tut der Gebärenden sehr weh. Meist hilft eine Hebamme, manchmal braucht es die Hilfe eines Arztes oder einer Ärztin. Manchmal geht es nur durch einen „Kaiserschnitt“. Immer häufiger, so sagt man, werden Geburten durch Kaiserschnitt auf einen vorher bestimmten Wunschtermin festgelegt.

Geburten sind nicht per Definitionem schrecklich oder wunderbar. Sondern jede Geburt ist anders, so wie auch jeder neugeborene Mensch noch nie vorher da war. So wie auch Mütter und Väter jeweils einmalig sind.

Wer in theologischen und philosophischen Wörterbüchern nach dem Stichwort „Geburt“ sucht, findet übrigens nahezu nichts. In der „Theologischen Realenzyklopädie“ zum Beispiel kann man 59 Seiten zum Thema „Tod“ lesen, aber keine Zeile über die Geburt. Im Nachschlagewerk „Religion in Geschichte und Gegenwart“ finden sich immerhin anderthalb Spalten zum Thema – neben 13 Spalten über den Tod. In der Ausgabe aus dem Jahr 1986 ist noch zu lesen, daß die Geburt „. . . vielleicht am meisten bei den sog. primitiven Völkern von allerlei Vorstellungen und Riten umgeben“ ist. Weihnachten wäre demnach primitiv? In der Ausgabe von 2000 hat man diesen Satz gestrichen. Aber auch hier erfahre ich nichts über die Theologie der Geburt, sondern nur einiges über sibirische Schamanen und andere Fremde. - Das katholische „Lexikon für Theologie und Kirche“ enthält immerhin einen einschlägigen Artikel. Doch im vor noch nicht langer Zeit erschienenen „Neuen Handbuch theologischer Grundbegriffe“ kommt „Geburt“ nicht vor. Erst in der zweiten Auflage des „Wörterbuchs der Feministischen Theologie“ (aus dem Jahr 2002) gibt es einen dreiteiligen Artikel unter der Überschrift „Geburt / Natalität“ - mit dem Hinweis, daß die ganze christliche Theologie von Weihnachten her zu verstehen sei oder die Menschenwürde sich in der Gebürtigkeit aller Menschen begründen lasse.

Ich fasse zusammen:

Am Anfang steht die Geburt. Jede Geburt mutet uns wie ein Wunder an, setzt etwas Neues und Einzigartiges in die Welt. Meine Gebürtigkeit, das Zur-Welt-Kommen als Geboren-werden verbindet mich zugleich mit allen anderen Menschen. Und im Neugeborenen wird meine Verletzlichkeit und Bedürftigkeit so augenfällig wie nirgends sonst. Vor und nach meiner Geburt bin ich restlos abhängig vom Schutz und der Fürsorge Anderer. Und zugleich ist die Geburt der Beginn meiner Freiheit. Hannah Arendt schrieb im Jahr 1958: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ . Und sie begreift Freiheit als die Fähigkeit und Bestimmung der Menschen, „das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt (zu) werfen“ (Ebd. S. 167).

In der Geburt eines neuen Menschen wird auch – vor allem von der Mutter – erfahren: ja, so soll es sein! Dies ist das Glück: der In-eins-Fall von Sein und Sollen, der uns so klar nur selten im Leben geschenkt wird! Im Glück erfahren wir eine tiefe, fraglose Zustimmung zum Ganzen der Welt. Das drückt sich aus in dem schönen Satz: „Jedes Kind, das geboren wird, ist ein Beweis, dass Gott diese Welt noch nicht aufgegeben hat. “

Helmut Röhrbein-Viehoff, Dezember 2014